Tag 97 (Countdown 13)

Endlich zu Besuch bei M. in der Seniorenresidenz in K. Irgendwann die Frage: Wieso gibt es eigentlich Rassismus? Wie kommt jemand auf die Idee, sich besser als der und die anderer Hautfarbe zu fühlen und sich in der Folge herablassend als “Herrenmensch” zu benehmen? Woher stammt die Vorstellung einer vermeintlich überlegenen weissen Rasse? Natürlich, sie gedieh im Kolonialismus, als Indien, Afrika und Südamerika systematisch ausgebeutet wurden, aber wieso diese schier endlose Halbwertszeit? Wo wir doch seit geraumer Zeit wissen, dass wir alle genetisch desselben Ursprungs sind? Dass einzelne Wissenschaftler im 19. Jahrhundert verzweifelt fast versuchten, die Überlegenheit der Weissen zu untermauern, mutet heute als lachhafter Versuch an zu beweisen, was nicht zu beweisen ist. Und doch sind über hundert Jahre später unsere “entwickelten”, reichen Gesellschaften noch immer tendenziell rassistisch und gebähren sich als hochhaus überlegen. Obwohl “Überlegenheit” etwas mit überlegen, nachdenken zu tun haben müsste. Für Afroamerikaner ist Rassismus eine tägliche Realität, und auch hierzulande ist er leider gang und gäb. Tschinggen, Jugos, dann die Flüchtlinge und Moslems – und alle drohen unser Land zu unterwandern , wie die selbsternannten “Heimatschützer” sagen. Von den Juden, die seit Jahrhunderten verfolgt werden, nicht zu reden. Was ist Heimat? Was heisst Menschsein?

Tag 96 (Countdown 14)

Gertrud Bell. Einer aussergewöhnlichen Frau in einem leider eher schlechten Alterswerk von Werner Herzog (!) wieder begegnet. Obwohl der Film leider wirklich nicht nur schlecht ist, sondern miserabel war, hat er meine Liebe zur Wüste neu entfacht. Wenn überhaupt irgendwann wieder mal irgendwo hingehen für ein paar Wochen, möchte ich die Wüste nochmals sehen. Und endlos durch sie reisen und im täglichen Einerlei durch scheinbar ewig gleiche Landschaften unweigerlich die Zeit vergessen, bis die andere Art der Zeitzählung den Tagesrhythmen bestimmt. Ruhen, wenn es zu heiss ist, weiterziehen, wenn es dunkelt. Die Wüsten wird es immer geben, und wer die Mühe auf sich nimmt, durch sie zu ziehen, wird von denen, die seit je her durch sie zogen und mit und in ihr leben, respektiert und mit Gastfreundschaft empfangen. Denn Mut wird mit Mut belohnt und Neugierde mit Neugierde. Ein eigentlich schönes Bild für eine funktionierende Sozietät: im Nichts viel finden –

Tag 94 (Countdown 16)

Als im März der Lockdown losging, begann ich eine sonderbare Trauer zu empfinden. Sonderbar insofern, als ich ein bekennendes Landei bin. Ich trauerte um Zürich, New York, Paris und alle Städte der Welt, die vom Virus betroffen waren und latent noch immer sind. Gartenbeizli, Hotels, Hochschulen, Grossunternehmen, Kultur jeder Couleur, Clubs – Zürich war für Menschen ein Traum, die belebte, Metropolen lieben und sich mit Wonne in den Brutstätten tummeln, die manchmal Kreativität hervorbringen, manchmal Chaos, manchmal einfach nur einen schönen Abend. Und das gehörte von einem Tag auf den andern der Vergangenheit an. Als Kind der Achtzigerjahre, weiss ich zu gut, was eine tote Stadt bedeutet, deren Beizen um Mitternacht dicht machen und die kein Angebot für Jugendliche bereithält. Dies begann sich mit der Jugendbewegung zu verändern. Damals 17-jährig, war ich vom Aufbruch begeistert, und ich hiess und heisse noch heute per se gut, was Veränderung will und bringt, wind of change. Nur war ich nie massenkompatibel und fürchtete mich vor Ausschreitungen an Demos, drum blieb ich den Protesten auf Zürichs Strassen physisch fern. Und jetzt hat Corona zugeschlagen und die Städte leergefegt. Sie erholen sich langsam von der Lähmung. Aber es ist noch längst nicht wieder so, wie es einmal war. Auch in Florenz nicht.

Schönes leeres Florenz oder beängstigend leeres Florenz?
M. und C. in bella Italia (R. fotografiert).

Tag 91 (Countdown 19)

Seit heute können Reisende wieder fast ganz Europa befahren – die Wiedersehensfreude beidseits der jeweiligen Grenzen zumal in Schwesterstäden ist gross. Seit gestern herrscht in Peking Panik vor einer neuen Ansteckungswelle. Seit bald vier Wochen giesse ich das Gärtchen nicht mehr, dass erledigt der Dauerregen im Alleingang und lässt den ohnehin üppig spriessenden Salbei vollends überborden. Seit ebenso langer Zeit scheint sich meine Oraklerei zu bewahrheiten: Ich bin mit gebrochenen Zehen so lange lahmgelegt, bis die Sonne wieder scheint. Das könnte ab nächster Woche der Fall sein. Vor sechsunddreissig Tagen startete der Lockerungsmodus nach dem Lockdown. Vor zwanzig Tagen wurde George Floyd in Minneapolis bei einem Polizeieinsatz sinnlos ermordet. Seit zwanzig Tagen ebben die weltweiten Proteste gegen Rassismus nicht ab, vor zwei Tagen wurden Demonstrierende in London von Rechtsextremen attackiert – was einen Schwarzen nicht davon abhielt, einen verletzten Hooligan zu retten. Für mich schon jetzt ein Bild des Jahres:

Black lives matter – wie wahr: Ein Schwarzer rettet in London einen verletzten Rechtsextremen.

Tag 90 (Countdown 20)

In Zeiten von Corona, pardon von Fast-Post-Corona, ist alles ein wenig anders. Da kann man gleichen- oder zumindest anderntags nicht gleich losrennen, um dieses Wunder von neuem Menschlein in Augenschein zu nehmen, nein, es herrscht erst mal Besuchsverbot. Ich muss mich in Geduld üben, endlich die neue Erdenbürgerin zu besuchen, warten, bis die Eltern wieder zu Hause sind und grünes Licht geben. Wer es erlebt hat, weiss, wie es mit einem verfährt und wie aufwühlend eine solch nahe familiäre Veränderung ist. Also gilt auch heute: ein bisschen was erledigen, was sich leicht erledigen lässt (Wäsche waschen und verfärben, wie gerade geschehen, zum Beispiel), aber vor allem: konzeptlos rumlümmeln, anhaltend aus dem Häuschen sein und mich freuen auf P. und B., die anstossen kommen. Hoffentlich kriege ich wenigstens die Müsliblättli im Bierteig anständig hin…

Tag 88 (Countdown 22)

Um 14 Uhr im Heimbüro ausgecheckt, um den einzigen Sonnentag weit und breit nicht zu verpassen. Auf der halbrunden Terrasse des Restaurants Sunneschy Zeitung lesen und den Menschen auf der Wiese zuschauen, die sich auf Strandtüchern sonnen und im Wasser herumplanschen. Später eine Runde bei Peter im Garten Vitamin D3 tanken, bisschen Sprudel trinken. Ich bin nervös an diesem Tag. Das Gefühl, das Enkeli sei auf dem Weg… Später zum Znacht eingeladen. Immer noch nervös…